Geschichte Suworow


Das Jahr 1799

Im Kanton Rätien sind Unruhen ausgebrochen. Um die Verbindung mit Graubünden abzuschneiden werden am 15. Mai aus der Garnison Glarus je 50 Mann Truppen nach Matt und Elm verlegt.

Am 26. September schickt der österreichische General Linken von Flims aus ein Bataillon über den Segnespass nach Elm, während er selbst mit der Hauptmacht über Panix und den Panixerpass ins Sernftal eindringt. Hinter Elm stösst Linken auf ein französisches Bataillon, mit dem er in der so ge­nannten Gurglen auf der Alp Jätz handgemein wird. Die Franzosen ziehen sich zurück, treffen aber in der Schwändi vorhalb Elm auf die österreichische Kolonne, die über den Segnespass herabgestiegen war. Die 600 Franzosen müssen sich ergeben und werden zum Tal hinausgeführt. General Linken, der in Glarus die Niederlage seiner Verbündeten erfährt, tritt am 29. September samt seinen Gefangenen den Rückweg über Elm und den Panixerpass an.

Man schreibt den 5. Oktober. Durchs Sernftal herein zieht ein russisches Heer von über 15’000 Mann unter dem Befehl des Feldmarschalls Suworow. Die Truppen sind durch die langen Märsche über Gotthard, Kinzig- und Pragelpass und durch die täglichen Kämpfe erschöpft. Die Uniformen hangen nur noch in Fetzen an ihren ausgemergelten Leibern. Ganzes Schuhwerk gibt es selbst bei den Offizieren nicht mehr, und ein grosser Teil der Mannschaft geht barfuss, oder die wunden Füsse in Lumpen gewickelt. Umsonst hat Suworow versucht, von Glarus aus den Durchbruch nach dem Wal­lenseetal zu erzwingen. Nach 16-stündigem, vergeblichem Kampf hat er sich entschliessen müssen, den Rückzug über Elm und den Panixerpass anzutreten. Die Franzosen haben ihren Abzug bemerkt, und bei Schwanden geraten sie mit der russischen Nachhut ins Gefecht. Nur ein holpriger Saumweg führt von Schwanden nach Elm, und für den Transport der Geschütze sind unendliche Schwierigkeiten zu überwinden. Von der entgegengesetzten Talseite prasseln die feindlichen Kugeln auf sie hernieder.

In der Abenddämmerung erreicht das geschlagene Heer Matt und Elm, verfolgt von General Molitor mit dem 1. Bataillon der 44. Halbbrigade. In dichten Flocken wirbelt der Schnee. Der 70-jährige Suworow nimmt Quartier in dem grössten und wohl stattlichsten Elmerhaus, dem Wohnsitz des kürzlich verstorbenen Landvogt Freitag. Der russische Thronfolger Fürst Constantin, ein grossge­wachsener, schöner Mann mit schwarzen Augen, übernachtet in der Wohnstube eines kleinen Häus­chens im Unterdorf (heute Heinrich Rhyner-Schneider, Unterdorf) auf einem Heulager. Es kommt den Leuten in Elm höchst fremdartig vor, wie Suworow, der kleine, graue Herr in grauem Überrock und dreispitzem Hut, dem Grossfürsten Reverenz erweist.

Die Armee bildet ein buntes Gemisch aus Völkern: Russen, Kalmücken, Tataren, deren Sprache man hier nicht verstehen kann. Eine lärmende Schar Kosaken in ihren weiten, blauen Hosen und roten Mützen sitzen um ein Feuer, und ein Soldat stochert sich eine Flintenkugel aus dem Schenkel, ohne auch nur mit einer Wimper zu zucken. Von Hunger gequält, ziehen Soldaten mit ihren ausgezehrten Pferden von Haus zu Haus, um Schuhwerk und Nahrung aufzuspüren. Ihre mageren Arme halten die Lanze hin, damit eine mildtätige Hand zum Fenster hinaus ein Stücklein Brot oder eine Kartoffel an dieselbe stecke. Andere durchsuchen die geleerten Kartoffelsäcke oder durchwühlen die Kehricht­haufen und Strassenrinnen nach etwas Essbarem, um den ärgsten Hunger zu stillen. Trotz der stram­men Disziplin, die Suworow handhabt, greifen aber auch viele zu Gewalttaten und Plünderungen. Sie reissen Zäune und Holzstösse zusammen, um Feuer anzufachen und ihre erstarrten Glieder daran zu erwärmen. Sie werfen das Heu aus den Scheunen auf die Strasse, zur Nahrung für die Pferde und zum Nachtlager für sich selbst, dringen in die Ställe ein, binden das Vieh los und schlachten es auf den Gassen, reissen es in Stücke und verschlingen das rohe Fleisch mit der Gier des russischen Steppen­wolfs. Gewalttätige Soldaten fallen über Elmerbauern her, reissen ihnen buchstäblich die Kleider vom Leibe und die Schuhe von den Füssen, brechen in die verrammten Häuser ein und rauben Speise, Kleider und Schuhwerk.  Aus getrockneten Ziegenfellen, die die Russen auf Estrichen und Stalldielen gefunden haben, bereiten sie Suppe und verzehren die gesottenen Häute samt den Haaren, ehe sie auch nur einigermassen gekocht sind. Vorsorglicherweise hatte der Kirchmeier die Abendmahlskannen im Rütiweidgädeli in Heu versteckt. Krieger der Nachhut, die sich fortwährend kämpfend der vordringen­den Franzosen erwehren müssen, rauben und töten in Matt in aller Eile sieben Kühe. Scharenweise fallen sie über die noch rauchenden Gedärme her und verzehren sie roh. Morgens zwei Uhr, es ist Sonntag, brechen die Truppen auf. Verwundete bleiben im kleinen Dorfkirchlein zurück. Heute wird wohl kein Gottesdienst gehalten werden können, man hat alle Hände voll zu tun mit der Verpflegung der Kranken.

Das Wetter ist stürmisch. Im Tal bedeckt Neuschnee Strassen und Matten, und unaufhörlich wirbelt der kalte Sturm den ermüdeten Kriegern Flocken ins Gesicht. Einige Elmerbauern werden gezwungen, den Russen mit Laternen als Wegweiser voranzugehen. Die Franzosen versuchen den Abzug zu stören, ja einzelne Gruppen verfolgen sie hartnäckig bis auf die Alp Jätz. Sie benutzen dazu hauptsächlich die linke Talflanke.

 

 

Die mit der Vorhut vorausgegangenen Maultiere haben den Pfad stellenweise aufgewühlt und damit den Marsch für die Nachrückenden noch schwieriger gestaltet. Der Schnee liegt hier fusstief. Dichte Wolken gespenstern um die schauerlich dunkeln Felswände. Kaum kann man den Vordermann erken­nen. Jeder steigt aufs Geratewohl nach oben. Viele vermögen sich, zu Tode erschöpft, nicht mehr in den Fussstapfen aufrecht zu erhalten. Hoffnungslos geben sie den Kampf mit den Unwillen der Natur und dem Berg auf. Die unbeschlagenen Pferde gleiten aus und reissen im Stürzen die nachfolgenden Krieger in Abgründe. Je höher sie hinaufkommen, umso unwegsamer werden die steilen Hänge. Oft stecken die halbnackten Männer bis an die Lenden in den zusammengewehten Schneehaufen. Schnee und Erde werden durch die ungewohnte Last gelockert und geraten in Bewegung. Es entstehen Lawinen, die donnernd in die Tiefe stürzen. Sie reissen alles, was in ihren Bereich kommt, Soldaten, Tiere und Geschütze mit sich in die Abgründe des Jätzbaches.

Nach 23-stündigem Marsch gelangt endlich die Vorhut Miloradowitsch’s in Panix an, die übrigen Truppen haben bis zum Abend die Passhöhe noch nicht erreicht. Die einbrechende Dunkelheit zwingt die ganze Kolonne zum Anhalten. Die Leute lehnen sich, jeder wo er gerade steht, an Felsen oder legen sich erschöpft auf Steine und Schnee nieder. Offiziere und Soldaten sind ohne Ausnahme bis auf die Haut durchnässt. Kosaken zerbrechen auf der Passhöhe ihre Lanzen und verbrennen sie, damit der General, «ihr Väterchen», an dem sie mit unendlicher Liebe hangen, sich am Feuer wärmen kann. Bis zur Brusthöhe stehen die halbnackten Krieger im Schnee, halb betäubt von den Stichen der Eisnadeln. In der Nacht hellt sich der Himmel auf. Strenger Frost, ja schneidende Kälte tritt ein und lässt manchem Russen das Nachtlager zum Totenbett werden.

Die gewaltsam zum Führerdienst gezwungenen Einheimischen löschen ihre Laternen aus und schleichen, der erlittenen Misshandlungen müde, unter dem Schutz der Dunkelheit weg. Bei Tages­anbruch setzt die nun führerlose, unübersehbare Kolonne ihren beschwerlichen Weg fort, nicht ahnend, dass ihnen das Schlimmste noch bevor steht. Eisglatt sind die steilen Hänge jenseits der Passhöhe ge­froren. Kein Pfad ist zu entdecken, der die Richtung weisen könnte. Jeder sucht sich beim gefahrvollen Abstieg seinen

eigenen Weg. Umsonst versuchen Männer, die in den Ebenen des Don und der Wolga auf­gewachsen sind, sich gegenseitig beim Ausgleiten aufzuhalten. Zu Hunderten stürzen die Soldaten über turmhohe Felswände in die Schluchten unterhalb der Alp Ranasca, so ihre zerschundenen Leiber in der Nähe der ewigen Firne ein kaltes Grab finden. Erst am Abend des 7. Oktober gelangen die letzten Russen in Panix an.

 

Von den 15’700 Mann, mit denen Suworow den Marsch nach Elm angetreten, gelangen am 8. Oktober noch deren 13’000 nach Ilanz. Die Übrigen sind gefallen, verwundet, in Abgründe gestürzt oder erfroren. Von den 2'000 Lasttieren treffen noch 70 im Rheintal ein, und von den 25 mitgeführten Ge­schützen gelangten keine über den Panixerpass.

 

Kurz nach seinem berühmten Alpenübergang fällt Suworow durch Verleumdung beim Kaiser in Ungnade. Er muss den Oberbefehl niederlegen und nach Petersburg zurückkehren. Ungeehrt und unbemerkt kommt er nach der Hauptstadt; die Grossen des Reichs meiden ihn, und der Kaiser weigert sich, ihn zu empfangen. Der Schmerz über solchen Undank wirft ihn aufs Krankenlager und zur Mit­ternachtsstunde des 18. Mai des folgenden Jahres stirbt er in Petersburg.

 

 

Zu spät erkennt der Kaiser sein Unrecht und betrauert den tapferen Heerführer. Mit fürstlichen Ehren, wie sie sonst nur einem Mitglied der kaiserlichen Familie zuteil wurde, 15’000 Mann Truppen werden aufgeboten, wird der tote Generalissimus beigesetzt. Sein Grabmahl bezeichnet nach seinem eigenen Willen nur die kurze Inschrift: «Hier liegt Suworow».